top of page

Der Eine Geist

Ein Mönch, der unermüdlich nach der Wahrheit suchte, kam eines Morgens zu seinem Meister Xuěfēng Yìcún und sprach:


„Meister, ich habe die Schriften gelesen und von der Buddha-Natur gehört, von der wahren Soheit, der verborgenen Essenz und dem reinen Bewusstsein. Doch ich verstehe nicht, wo ich diese Dinge finden kann. Wo ist der eine Geist, von dem die alten Texte sprechen?“

Xuěfēng saß still am Rande eines Bambushains, wo die Morgensonne durch die Blätter schimmerte. Er blickte den Mönch an und fragte:


„Sag mir, wie viele Namen hat der Wind?“

Der Mönch war verwirrt.


„Der Wind? Er hat viele Namen – die Brise, der Sturm, der Hauch. Aber es ist doch immer derselbe Wind, oder?“

Xuěfēng nickte.


„Genau so ist es mit dem einen Geist. Man nennt ihn Buddha-Natur, wahre Soheit, die verborgene Essenz, den reinen spirituellen Körper, den Sockel des Bewusstseins, die wahre Seele, den Unschuldigen, die universelle spiegelgleiche Erkenntnis, die leere Quelle, die höchste Wahrheit, das reine Bewusstsein. Doch es ist immer derselbe Geist – dein Geist.“

Der Mönch musste es genauer wissen und fragte nach:


„Aber wo finde ich ihn? Ich habe so lange gesucht, in den Schriften, in der Meditation, in den Worten der alten Meister.“

Xuěfēng deutete auf die Sonne, die sich im stillen Wasser eines kleinen Teichs spiegelte.


„Die Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie alle ihre Lehren sind in deiner ursprünglichen Natur enthalten, von Natur aus vollständig. Sieh die Sonne dort im Wasser – musst du sie suchen, oder ist sie bereits da?“

Der Mönch schaute auf das Wasser und sah die Reflexion der Sonne, klar und strahlend. Doch er zögerte.


„Aber Meister, wenn sie bereits da ist, warum fühle ich mich so verloren? Warum habe ich die Erleuchtung nicht erlangt?“

Xuěfēng lächelte sanft.


„Du musst nicht suchen, aber du musst dich selbst retten. Niemand kann das für dich tun. Dein Geist ist wie dieser Teich – die Sonne ist immer da, doch wenn das Wasser trüb ist von deinen Gedanken und deinem Streben, kannst du sie nicht klar sehen. Lass es einfach zur Ruhe kommen.“

Der Mönch setzte sich ans Ufer des Teichs und schloss die Augen. Er ließ seine Gedanken zur Ruhe kommen, wie Xuěfēng es ihm gesagt hatte. Nach einer Weile fühlte er eine tiefe Klarheit in sich, als ob die Grenzen zwischen ihm und der Welt um ihn herum verschwanden. Er öffnete die Augen und sah die Sonne im Teich, strahlender als je zuvor.

Xuěfēng sprach leise:


„Der eine Geist war nie fort. Du bist es, der ihn immer schon war.“



Comentários


bottom of page